Rangordnung bei Hunden: Noch aktuell?

Zwei Wölfe schlechen einander.

Lange Zeit hieß es, Hunde lebten in einer hierarchischen Struktur. Das Alphamännchen habe das Sagen und jedes Rudelmitglied bräuchte die Erlaubnis aller über ihm Stehenden, um etwas zu tun. Eine Konsequenz davon wären ständige Kämpfe um eine höhere Position. Diese Sicht wird zunehmend abgelehnt. Aber ist damit alles falsch, was man früher annahm? Oder was stimmt immer noch?

Indem du dein Tier besser verstehst, kannst du dich besser auf sein Verhalten einstellen – und dieses Wissen zu eurer beider Vorteil nutzen.

Die alte Sicht: Streng hierarchisches Rudel

Zwar stammt der Hund vom Wolf ab, aber er ist schon lange keiner mehr! In der alten Sichtweise wird der Gedanke überbetont, dass der Kampf um die Rangordnung das zentrale Ordnungsprinzip sei. Sie galt als der Weg der Natur und diene dazu, das Verhalten von Rudelmitgliedern zu bestimmen. Dabei nahm man eine klare Rangfolge an: Wer weiter oben steht, bestimmt. Oder anders ausgedrückt: Es galt als eine Frage der Dominanz, wer das Sagen hatte.

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An der Spitze des Rudels steht das Alphapärchen, ein Rüde und eine Hündin. Hier gibt es einen häufigen Denkfehler: Das Alphatier war niemals grundsätzlich das stärkste Tier – auch wenn das vorkommen kann. Gerade bei der Beobachtung gefangener Wölfe geschah dies oft, denn der Lebensraum und die verschiedenen Alltagssituationen sind hier stark eingeschränkt. In der Natur zeichnen sich sogenannte Alphatiere jedoch durch die Fähigkeit aus, das Rudel insgesamt führen zu können. Dafür haben sie meist eine gesteigerte Intelligenz; absolute größte Kraft ist keine Notwendigkeit. Es ist vielmehr das geeignetste Tier, das dem Rudel insgesamt den größten Vorteil bietet.

Diese Kraft ist eher ein Merkmal des Betatiers, meist ein kräftiges Männchen. Es ist in der Regel stärker als das Alphapärchen, aber nicht so intelligent. Auf ihn folgen die restlichen Rudeltiere. Die älteren und erfahreneren Tiere stehen ein wenig höher als die jüngeren. Die Welpen kommen ganz am Schluss.

Wer oben steht, bestimmt – immer! (Veraltet)

Hauptbestandteil des veralteten Rudel-Verständnisses ist folgende Einschätzung: Dominanz und eine bessere Position in der Rangfolge bedeuten einen höheren sozialen Status. Ein Hund A mit einem höheren Status als B hat nach dem alten Modell immer Vorrang gegenüber dem Hund B mit einem niedrigeren Status. Er frisst grundsätzlich vor ihm und macht B stets bewusst, dass er über ihm steht. Vorrang bezieht sich dabei auf die verschiedensten (überlebenswichtigen) Dinge in einem sehr weiten Sinn: Futter und Wasser, aber auch Territorium und die Gelegenheit zum sozialen Kontakt sowie die körperliche Unverletztheit.

Das Alphatier war bei dieser Sichtweise der König oder Tyrann, der seine Untertanen beherrschte und nach eigenem Gutdünken über sie verfügte. Alle Hunde waren Diktatoren in spe, die nur darauf warteten, die Macht über ihr Rudel an sich zu reißen. Aus diesem Grund gibt es auch immer wieder die Empfehlung, dass man als Mensch das Alphatier sein müsse – notfalls mit Gewalt.

Das System hatte einen großen Vorteil für Hundehalter, weshalb es sich auch so hartnäckig hält: A über B über C und so weiter ist ein sehr einfaches, geradliniges Schema. Leider ist es zu einfach und in dieser extremen Form schlicht falsch. Denn: Derjenige, an dem ein Hund sich orientiert, muss nicht stark und mächtig, sondern souverän und kompetent sein.

Die neue Sicht: Komplexer Familienverband

Heute geht man davon aus, dass die Zusammenhänge wesentlich komplexer sind. Technologische Fortschritte erlauben eine genauere Beobachtungen, wichtige Details und Nuancen im Verhalten werde so wahrgenommen. Einen wesentlichen Beitrag zum Verständnis der Wölfe (und damit indirekt der Hunde) leistete David Mech, der zwischen 1986 und 1998 Wolfsgruppen in Kanada untersuchte.

Grauwölfe am Fluss
Kein steter Kampf um Status – familiäres Miteinander, Beschützen, Aufpassen.

Seine und weitere Untersuchungen zeigen, dass es in einem Wolfsrudel keinen steten Kampf um Positionen gibt. Weder muss ein Wolf kämpfen, um seine Position zu halten, noch um vorzurücken. David Mech sagt dazu:

„Wolfsrudel in Freiheit bestehen stets aus Familienverbänden, mit Wolfseltern und ihrem Nachwuchs in verschiedenen Altersstufen. Und genau so wie in einer Familie geht es in diesen Rudeln auch zu: Die Leitwölfin und der Leitwolf sind keinesfalls strenge Autoritäten, die ihren Rang gegenüber der Konkurrenz verteidigen, sondern nichts anderes als liebevolle und fürsorgliche Eltern.“

Was heißt dies konkret? Es heißt, dass sich Wölfe umeinander kümmern. Das Rudel wächst mit seinem Nachwuchs auf, kümmert sich um diesen, bringt ihm Wichtiges bei, erzieht ihn. Aggressives Verhalten innerhalb des Rudels ist selten. Es tritt meist dann auf, wenn der Mensch eingegriffen hat, beispielsweise durch die Erschießung eines Tieres oder durch die Vertreibung aus dem angestammten Territorium – oder indem er Wolfsfamilien auseinander reißt und zu Fremden in einen Zoo packt. Viel öfter als aggressives Verhalten beobachtete man einen freiwilligen Verzicht zugunsten anderer Rudelmitglieder. Und das nicht, weil der andere Wolf sich aggressiv gab, sondern spontan und gänzlich freiwillig.

In einem Satz zusammengefasst: Grundprinzip eines Rudels ist nicht Konfrontation, sondern Kooperation!

Heißt das, alles war falsch?

Selbstverständlich bedeutet dies weder, dass es nur Harmonie gibt noch dass alle und immer gleich sind. Nach wie vor gibt es Statusunterschiede zwischen individuellen Wölfen oder Hunden. Diese sind aber nur sehr schwach fixiert, vielmehr flexibel. Nicht nur Alter oder Verwandtschaft spielen eine Rolle und die „Rangfolge“ kann sich im Minutentakt ändern, so schnell wie die Situation. Einige Einflussfaktoren sind:

  • Tageszeit
  • Jahreszeit
  • Anwesende Gruppenmitglieder (Anzahl)
  • Anwesende Gruppenmitglieder (Individuen)
  • Ort
  • Vorhandene Ressourcen
  • Interesse
  • Stress
  • Vorerfahrung in der Situation

Diese Liste ist bei weitem nicht abschließend. Was bleibt vom alten Modell? Hunde und Wölfe sind darauf bedacht, den eigenen Vorteil zu maximieren – allerdings nicht um jeden Preis. Es ist auch nicht der größte Vorteil, ganz oben zu stehen. (Man denke einmal an jemanden, der in seiner Chef-Position maßlos überfordert ist, vorher als Berater aber gut und glücklich war!) Vor allem wären andauernde interne Kämpfe Energieverschwendung. Wölfe lassen anderen daher den Vortritt, wo es für sie unwichtig ist.

Auch scheinbar unterwürfiges Verhalten ist übrigens kein Indikator für das Anerkenntnis einer höheren Position: Schnauzenlecken und gegenseitige Körperpflege wird in einem Rudel nahezu gleichmäßig unter allen Rudelmitgliedern ausgetauscht. Erfahrung und in der konkreten Situation nützliche Fähigkeiten in ihr spielen eine weit größere Rolle als festgelegter Rang.

Warum hält sich das alte Bild immer noch?

Das alte Bild ist einfach und leicht umsetzbar. Menschen schätzen einfache Modelle. Es ist eben viel einfacher, sich hinzustellen und zu sagen „Ich bin Chef, du machst, was ich sage“ als zu ergründen, wann etwas anderes besser ist. Und nicht nur dieser Ansatz hält sich hartnäckig; sicher kennt jeder veraltete „Weisheiten“ rund um Hundeerziehung.

Das neue Bild delegiert dabei eine große Verantwortung an den Menschen. Denn immerhin leben unsere Haushunde in einer Menschengesellschaft und wir müssen sie in diese eingliedern. Daher hast du sicher schon oft gehört: „Das Problem ist am anderen Ende der Leine.“ Und in der Tat: Blinde Dominanz und polternde Strenge scheinen oft ein einfacher Weg zu sein, bei dem allerdings vieles auf der Strecke bleibt – vor allem Kommunikation und Verstehen. Aber gerade das sind die Zauberwörter für eine funktionieren Mensch-Hund-Bindung. Hunde sind komplexe Wesen und haben vielfältige Emotionen.

Ein weiterer Grund ist die häufige Falschdarstellung von Darwins Aussagen zur Evolution. Das „Überleben des Stärkeren“ (survival of the fittest) wird oft so interpretiert, dass der Stärksten und Aggressivste gewinnt und „oben“ steht. Das kann stimmen, muss es aber nicht.

Auch neue, sich widersprechende Forschungen trugen dazu bei, die alten, als gesichert geltenden Erkenntnisse weiter zu lehren. Der Mensch ist ein Gewohnheitstier: Er bleibt bei dem, was er kennt und vermeidet Neues und Unbekanntes. So erklären sich auch verschiedene Fehlinterpretationen des Hundeverhaltens. Schreie ich einen Hund an, reagiert er oft mit unterwürfigem Verhalten. Wir neigen dazu, das mit einem schlechten Gewissen gleichzusetzen – was totaler Blödsinn ist, uns aber in unserem Verhalten bestärkt. Zudem reagiert es unseren eigenen Stress ab. Manche Menschen bauen sich selbst auf, indem sie andere klein machen.

Sind die Erkenntnisse auf den Hund übertragbar?

Die Untersuchungen David Mechs fanden an wildlebenden Wölfen statt. Nun stammen Hunde zwar von Wölfen ab, sind aber keine Wölfe. Gänzlich lassen sich die Beobachtungen daher nicht übertragen.

Die Domestizierung der Hunde hat ihr Sozialverhalten deutlich verändert – das merkt man sogar noch bei Haushunden, die verwildern und seit Generationen ohne Menschen leben. Ihre sozialen Bindungen sind schwächer als bei Wolfsrudeln. Die Gruppe ist weniger wichtig als das Territorium. Häufig finden sich Untergruppen, die zwar noch miteinander agieren, aber nicht im Stil einer Wolfs-Familie. Unterwürfigkeit ist öfter Zeichen einer vorausgehenden Aggression.

Und zwischen Haushunden? Hier ist vieles ungeklärt. Akzeptierte Langzeitstudien zwischen Haushunden gibt es bislang nicht. Diese sind auch schwer umsetzbar, denn der Mensch ist hier ein nicht entfernbarer Einflussfaktor.

Interessant ist die Studie von Bradshaw 2009 (Dominance in domestic dogs: useful construct or bad habit?). Sie deutet darauf hin, dass sich keine festen Statusverhältnisse bilden, sondern der Umgang mit einzelnen Hunden individuell erlernt wird. Allerdings fand diese Studie im Tierheim statt und das ist eben nicht die typische Situation unserer Hunde.

Hund und Mensch: Regeln statt Rangordnung

Was heißt dies aber nun für deinen Hund und dich? Auch über Hunde und Menschen gibt es keine klaren Studien zu hierarchischen Strukturen. Sicher ist jedoch: Dein Hund weiß, dass du kein Hund bist. Er weiß, dass du auf zwei Beinen läufst, nicht auf vier Beinen; er weiß, dass du kein Fell hast.

Vielleicht sieht er deine Familie als Rudel – vielleicht aber auch nicht. Sinnvoller, als eine Rangordnung zu etablieren, die im Auge des Hundes vielleicht gar nicht existiert, ist daher ein anderer Ansatz. Dieser Ansatz sind feste Verhaltensregeln. Da unsere Gesellschaft eine menschliche Gesellschaft ist, obliegt es dir, diese Regeln aufzustellen. Allerdings darfst du dabei nicht nur an dich denken, sondern musst auch deinen Hund einbeziehen. Um das zu erreichen, musst du auch seine Bedürfnisse beachten.

Einige Regeln ergeben sich aus Notwendigkeit: Dein Hund darf nicht auf die Straße rennen, oder er wird überfahren; Anspringen von Fremden ist meist unangenehm und ungewollt. Damit dein Hund dich versteht, muss eure Kommunikation funktionieren. Gebrüll, körperliche Strafe oder massive Manipulation sind dazu nicht geeignet und stören dauerhaft euer Verhältnis. Auch wenn wir gerade infrage stellten, ob dieses Konzept das richtige ist: Im Endeffekt willst du deinem Hund ein guter Rudelführer sein. Nämlich jemand, auf den er vertrauen kann, dessen Anweisungen er folgt, weil er weiß, dass es für ihn das Beste ist.

In diesem Sinne bist du dann ein „Alphatier“ oder besser ein vertrauenswürdiger Partner, der Situationen im Griff hat. Dein Hund mag es nicht, wenn du ihn ausschimpfst, aber er hält deine Streicheleinheiten und Aufmerksamkeit für das beste Geschenk der Welt. Auf deine Kinder oder dein Grundstück passt er auf wie auf die Rudel-Welpen. Er weiß, dass sie wichtig für dich sind und indem er sie schützt, sichert er dein und sein Fortbestehen. Du bist für ihn der oder die Schlaue, der Intelligente; derjenige, der weiß, was zu tun ist; derjenige, der ihn füttert, und der richtig und falsch kennt. Aber ganz ohne Gewalt und Machtkampf.

Ist das dann noch Rangordnung? Es ist sicher nicht mehr das Dominanz- und Hierarchiekonzept. Dein Hund hört auf dich, weil er glaubt, so am besten zu fahren. Es ist nicht nötig, dass du als Erster durch jede Tür gehst. Du musst nicht vor deinem Hund essen. Dein Hund darf auch aufs Sofa (sofern du das willst). Mehr als ihn in jeder Situation unter dich zu stellen und ihn zurechtzuweisen, musst du ihm klare Regeln an die Hand geben und diese konsequent befolgen – nicht mit Strafe, sondern mit Belohnung.

Das Fazit der modernisierten Sichtweise ist also: Den dauerhaften Machtkampf gibt es nicht. Rudel sind soziale Familiengefüge. Und auch wenn Mensch und Hund keine biologische Familie sein können – ein gutes Team kann allemal entstehen!

2 Kommentare

  1. Liebes MyDog365 Team,

    danke für diesen Artikel. Ich lese gerade John Bradshaws Buch „Hundeverstand“, im Original „Dogs in Defence“, in dem all das beschrieben wird, was ihr hier so treffend zusammengefasst habt. Ich bin selber in wissenschaftlicher Ausbildung und habe mich gefreut, ein Hundebuch zu lesen, das wissenschaftlichen Standards genügt und trotzdem für jeden, den es ernsthaft interessiert, ganz einfach zu verstehen ist. Vor allem entspannen die Aussagen das Zusammenleben mit dem Hund ungemein, wirklich eine Wohltat! Ich wünsche allen Haltern, dass sie euren Artikel ihren Hunden zuliebe lesen und sich zu Herzen nehmen.

    Gruß, Monika

  2. Der Kernpunkt ist doch der, das der Hund unglaublich viel mehr Zeit hat den Menschen zu studieren, nämlich die ganze Zeit, und besser Zusammenhänge verknüpft als wir glauben. Im natürlichen Lebensraum aller Tiere geht es um Nahrung und Fortpflanzug. Erstere erhält man in der Regel durch Fehler anderer die das dann mit dem Leben bezahlen. Es ist also wichtig diese Fehler zu sehen. Und der Hund sieht diese unglaublich gut, so gut das wir diese kleinsten Fehler selber gar nicht wahrnehmen. Trifft das auf Hundehalter die viele dieser kleinen Fehler machen wird der Hund das Leittier. Er übernimmt diese Rolle aber still und leise und lässt uns in dem Glauben. Das machen Sie meist extrem elegant und mit viel Fürsorge , deswegen fällt es nicht auf. Oder er stellt sich zumindest auf eine Ebene mit uns um unsere mangelnden Fähigkeiten zu kompensieren.
    Hat man dann als Begleiter einen etwas dominanteres Tier erwischt war’s das ganz schnell mit dem entspannten Zusammenleben und dem Gehorsam. Sieht man jedes Wochenende in Hülle und Fülle.
    Und noch etwas: Konditionierung über Futter führt sicher schneller zu Ergebnissen , wird aber sofort durchschaut und ist nichts weiter als Bequemlichkeit des Besitzers.
    Empathie und Zeit und eine gewisse Konsequenz und Gedult sind die einzigen Faktoren die helfen. Nur die wollen oder haben die Leute nicht, denn wenn Sie das hätten würden die meisten Erkennen das Sie kein geeignetes Rudelmitglied sind und sich keinen Hund anschaffen weil Sie dem Tier nicht gerecht werden können.

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